Handelsblatt: „2022 wird nicht das Jahr der Aktie“ – Charttechniker sehen weitere Abwärtsrisiken

Der Dax hat im Vergleich zum Hoch von Jahresbeginn bereits sieben Prozent verloren. Nur eine Konstellation macht etwas Hoffnung.

von Ulf Som­mer, Handelsblatt

Düs­sel­dorf Die Bör­sen haben am Mon­tag ihren Abwärts­trend rasant fort­ge­setzt, weil die Sor­gen vor einem Krieg in Ost­eu­ro­pa zuneh­men: Der deut­sche Leit­in­dex Dax fiel erst­mals seit Okto­ber wie­der unter die psy­cho­lo­gisch wich­ti­ge Mar­ke von 15.000 Punk­ten und ver­lor zeit­wei­se mehr als vier Pro­zent auf 14.952 Zähler.

Mitt­ler­wei­le hat das Frank­fur­ter Bör­sen­ba­ro­me­ter seit sei­nem Hoch Anfang Janu­ar in der Spit­ze sie­ben Pro­zent an Wert ver­lo­ren, die ame­ri­ka­ni­sche Tech­no­lo­gie­bör­se Nasdaq sogar zwölf Pro­zent. Und Anle­ger soll­ten wei­ter in Deckung gehen, wenn es nach dem Votum fünf chart­tech­ni­scher Ana­lys­ten geht, die das Han­dels­blatt zu den Per­spek­ti­ven an den Bör­sen befragt hat. „2022 wird nicht das Jahr der Aktie“, ist Fre­de­rik Alt­mann vom Bro­ker­haus Alpha überzeugt.

„2022 wird ein Jahr des Kapi­tal­erhalts wer­den“, sagt Jörg Sche­rer, Lei­ter der tech­ni­schen Ana­ly­se bei HSBC Deutsch­land. Der ban­ken­un­ab­hän­gi­ge Ana­lyst Klaus Dep­per­mann rech­net gar „mit einer deut­li­chen Kor­rek­tur“ und „im zwei­ten Halb­jahr mit dem Beginn eines Bären­mark­tes“: einer sich über das lau­fen­de Jahr hin­zie­hen­den Pha­se fal­len­der Kurse.

Mehr Poten­zi­al und Ren­di­te als Divi­den­den­pa­pie­re ver­spre­chen nach Mei­nung der Chart­tech­ni­ker Roh­stof­fe, ein­schließ­lich Gold. „Viel Geld fließt in die Roh­stoff­märk­te, sodass sie 2022 der Gewin­ner wer­den dürf­ten“, pro­gnos­ti­ziert Chris­ti­an Hen­ke vom Han­dels­haus IG Markets.

Tech­ni­sche Ana­lys­ten lei­ten ihre Pro­gno­sen nicht aus real­wirt­schaft­li­chen Ent­wick­lun­gen samt Unter­neh­mens­ge­win­nen und Aus­bli­cken der Kon­zern­vor­stän­de ab, son­dern aus dem Chart­bild der Kur­se und wie­der­keh­ren­den Mustern.

Wer dar­an nicht glau­ben möch­te, soll­te beden­ken: Je mehr Aktio­nä­re sich an Chart­for­ma­tio­nen ori­en­tie­ren, des­to eher wird allein dadurch die Pro­phe­zei­ung Realität.

Vergangenheit gibt den Experten recht

An der Wall Street genießt die Zunft der tech­ni­schen Ana­lys­ten, nicht zuletzt seit den legen­dä­ren Erfol­gen des Bör­se­nalt­meis­ters Jes­se Liver­mo­re im frü­hen 20. Jahr­hun­dert, viel Auf­merk­sam­keit. Der ame­ri­ka­ni­sche Trader ori­en­tier­te sich an Kurs­hochs und -tiefs und wur­de vor allem durch sei­ne Spe­ku­la­ti­on auf fal­len­de Kur­se in den Crashs 1907 und 1929 reich.

Die jün­ge­re Ver­gan­gen­heit gibt den vom Han­dels­blatt gela­de­nen Ana­lys­ten recht: Vor genau einem Jahr lau­te­te ihre Kern­bot­schaft: „Chart­tech­nisch ste­hen alle Ampeln auf Grün“ – ihre Dax-Pro­gno­se ziel­te bis auf 16.500 Punk­te. Tat­säch­lich schaff­te es der Dax bis auf ein­ein­halb Pro­zent an die­se Mar­ke heran.

Dies­mal zielt die Bot­schaft in die ent­ge­gen­ge­setz­te Rich­tung. Mit dem Sturz unter 15.600 Punk­te ist die ers­te Mar­ke schon gefallen.

„Fällt der Dax auch unter die kri­ti­sche Mar­ke von 15.000 Punk­ten, droht ein Abwärts­trend“, sag­te Karin Rol­ler, Bör­sen­händ­le­rin und Vor­stands­mit­glied der Ver­ei­ni­gung Tech­ni­scher Ana­lys­ten Deutsch­lands (VTAD). Die nächs­te gro­ße Unter­stüt­zung sieht die Exper­tin und Buch­au­to­rin erst wie­der bei rund 13.500 Punkten.

Der Bereich von 15.000 Punk­ten - genau um die­se Mar­ke kämpf­te der Dax am Mon­tag kurz vor Han­dels­en­de - hat für Rol­ler und ihre vier Mit­strei­ter eine hohe Bedeu­tung. Im März ver­gan­ge­nen Jah­res war es dem Dax gelun­gen, ful­mi­nant über 15.000 Punk­te zu stei­gen, ohne seit­dem nen­nens­wert unter die­se Hür­de zu fal­len. Sie hielt bei jeder Bör­sen­schwä­che. Anle­ger beka­men also stets signa­li­siert: Hier gibt es genü­gend Kauf­be­reit­schaft. Kri­tisch wird es, wenn die­se Mar­ke in die­ser Woche „nach­hal­tig“ unter­schrit­ten wird: das heißt min­des­tens auf Schluss­kurs­ba­sis und auch des fol­gen­den Handelstages.

Genau­so viel Bedeu­tung haben die 13.500 Punk­te: Jah­re­lang war der Dax wie an einer Mau­er an die­sem Wider­stand abge­prallt. Sobald die­ser geris­sen wur­de, mutier­te er zu einer Unter­stüt­zung. Ide­al­ty­pisch und chart­tech­nisch gesund wäre nun ein Rück­set­zer auf die­se alte Aus­bruchs­mar­ke. „Hält die­se Mar­ke, dann bekommt der Dax eine mas­si­ve Unter­stüt­zung – und ist reif für eine neue Auf­wärts­be­we­gung“, so Scherer.

Das heißt für Rol­ler und die vier Exper­ten im Umkehr­schluss aber auch: Hält die Mar­ke von 13.500 Punk­ten nicht, ent­steht wei­te­res Abwärts­po­ten­zi­al. Eben weil Anle­ger signa­li­siert bekä­men, dass es kei­ne Kauf­be­reit­schaft gibt. Das wie­der­um führt zu neu­er­li­chen Ver­käu­fen. In dem Fall wür­de sich der Abschwung selbst näh­ren – so, wie sich jah­re­lang der Auf­schwung mit immer höhe­ren Kur­sen genährt hat.

Drei Belastungen drücken auf die Kurse

Anle­ger soll­ten des­halb vor­sich­tig agie­ren. Drei Belas­tungs­fak­to­ren stan­den in dem Chart­ge­spräch beson­ders im Mit­tel­punkt: Bedenk­lich stim­men ers­tens die seit Janu­ar stark gestie­ge­nen Kurs­schwan­kun­gen. Sie sind für Alt­mann „ein typi­scher Vor­bo­te für ein Top und eine Distributionsphase“.

Dabei geht es um eine Pha­se, in der früh­zei­tig ein­ge­stie­ge­ne Inves­to­ren ihre Gewin­ne mit­neh­men und gleich­zei­tig vie­le neue Anle­ger kau­fen, die von den lan­ge Zeit stark gestie­ge­nen Kur­sen eupho­ri­siert sind. Des­halb kommt es bei stei­gen­den Umsät­zen zu höhe­ren Schwan­kun­gen, ohne dass die Kur­se auf neue Hochs stei­gen – sie bil­den einen Gip­fel, ein Top aus. Das ist kein Zei­chen von Stär­ke, son­dern Schwä­che – „Ver­tei­lungs­pha­se“ genannt.

Zwei­tens ist den Exper­ten auf­ge­fal­len, dass sich unter der glän­zend erschei­nen­den Ober­flä­che schon seit Lan­gem Ris­se auf­ge­tan haben. „Ein Bör­sen­in­dex nach dem nächs­ten bekommt Pro­ble­me und erreicht kei­ne neu­en Hochs mehr“, sagt Dep­per­mann. In Bra­si­li­en ist der Bove­spa-Index seit ver­gan­ge­nem Som­mer nicht mehr gestie­gen, in Japan der Nik­kei seit Sep­tem­ber nicht mehr – „und am bedenk­lichs­ten ist der Rus­sell 2000. Hier ent­täuscht die Chart­tech­nik ganz besonders.“

In die­sem wich­ti­gen, in der Öffent­lich­keit aber wenig bekann­ten ame­ri­ka­ni­schen Index notie­ren 2000 klei­ne­re US-Fir­men. Seit März ver­gan­ge­nen Jah­res ist der Rus­sell nicht mehr gestie­gen, seit Novem­ber geht es abwärts.

Es geht dabei um die feh­len­de Markt­brei­te: Die Akti­en klei­ne­rer Unter­neh­men ver­lie­ren seit län­ge­rer Zeit, wäh­rend­des­sen die Schwer­ge­wich­te unent­wegt zuleg­ten und die gro­ßen Indi­zes wie Nasdaq, S&P und Dow auf neue Hochs getrie­ben haben.

„Die Bör­sen­ral­ly wird nicht mehr von der Mehr­zahl der Titel getra­gen. Das ist sehr typisch für eine Spät­pha­se der Hausse“, urteilt Sche­rer. Die­se ist an der Nasdaq, der welt­weit größ­ten Tech­no­lo­gie­bör­se, am prä­gnan­tes­ten abzu­le­sen. Klam­mert man die „Big Five“ aus – das sind Apple, Micro­soft, Alpha­bet, Ama­zon und Face­book –, dann war die Nasdaq-Per­for­mance im Gesamt­jahr 2021 nega­tiv. Zusam­men mit den Schwer­ge­wich­ten stieg der Index jedoch um gut 25 Prozent.

Solch ein kras­ses Phä­no­men gab es schon ein­mal: In der zwei­ten Hälf­te 1999 und bis März 2000 tru­gen nur noch SAP, Deut­sche Tele­kom und Man­nes­mann den Dax nach oben. Ohne die­se dama­li­gen Schwer­ge­wich­te hat­te der Dax sei­nen Abwärts­trend längst begon­nen, der sich mas­siv ver­stärk­te, als Anle­ger sich von den drei über­be­wer­te­ten Akti­en abwand­ten. Für Chart­tech­ni­ker ist die­se feh­len­de Markt­brei­te ein ide­al­ty­pi­scher Vor­bo­te einer Baisse.

Drit­tens sehen die Exper­ten zu viel Sorg­lo­sig­keit im Markt: Seit dem Coro­na­crash im Früh­jahr 2020 hat es kei­nen nen­nens­wer­ten Bör­sen­ein­bruch mehr gege­ben. Der welt­weit wich­tigs­te Bör­sen­in­dex, der S&P 500, ist seit­dem nie mehr als um 4,5 Pro­zent gefal­len, hat Sche­rer errechnet.

Mit fata­len Kon­se­quen­zen: Anle­ger hät­ten sich dar­an gewöhnt, dass sich die Stra­te­gie „Buy the dips“ loh­ne – frei über­setzt: bei Kurs­schwä­che kaufen.

Der „Flächenbrand“ hat vielleicht schon begonnen

„Gro­ße Pro­ble­me gibt es dann, wenn die­se lieb gewor­de­ne Stra­te­gie nicht mehr funk­tio­niert und sich der Markt nach einem klei­nen Rück­set­zer nicht mehr erholt. Dann droht ein grö­ße­rer Flä­chen­brand an den Bör­sen“, pro­gnos­ti­ziert Scherer.

Mög­li­cher­wei­se hat die­ser „Flä­chen­brand“ bereits begon­nen. Am 12. Janu­ar stand der S&P bei 4726 Punk­ten. Seit­dem ist er ohne Zwi­schen­er­ho­lung um sie­ben Pro­zent gefal­len. Schluss­end­lich stimmt eine Rei­he fun­da­men­ta­ler Stör­feu­er abseits der rei­nen Chart­tech­nik bedenk­lich, so Dep­per­mann: welt­weit gestör­te Lie­fer­ket­ten, die Coro­na­pan­de­mie, Ener­gie­pro­ble­me bis hin zu einem sei­ner Mei­nung nach dro­hen­den „Black­out“ im Indus­trie­land Deutsch­land und die restrik­ti­ve­re Notenbankpolitik.

„Drei bis vier US-Zins­schrit­te in die­sem Jahr dro­hen nicht nur wie bis­lang die Tech­no­lo­gie­ak­ti­en zu tref­fen, son­dern auch auf den Gesamt­markt über­zu­grei­fen“, sagt Hen­ke. Höhe­re Leit­zin­sen dürf­ten die Anlei­he­ren­di­ten wei­ter stei­gen las­sen – wodurch der Aktie zuneh­mend eine Kon­kur­renz erwachse.

Zu guter Letzt ver­brei­tet HSBC-Ana­lyst Sche­rer doch noch etwas Opti­mis­mus. Er hat sich mit der Bör­sen­re­gel, wonach die ers­ten fünf Han­dels­ta­ge über das Gesamt­jahr ent­schei­den, näher befasst. Dem­nach gab es seit Start des Dax 1988 nur sie­ben Jah­re, in denen Deutsch­lands wich­tigs­ter Bör­sen­in­dex die ers­ten fünf Tage im Plus und gleich­zei­tig der ame­ri­ka­ni­sche S&P 500 im Minus beendete.

So auch in die­sem Jahr: Der Dax schaff­te einem Zuge­winn von 0,4 Pro­zent in der ers­ten Han­dels­wo­che, die US-Bör­sen ver­lo­ren allesamt.

In sechs die­ser sie­ben Jah­re, in denen es bis­lang solch eine Kon­stel­la­ti­on gab, war der schwä­che­re Markt der ers­ten Han­dels­wo­che auch im Gesamt­jahr der schlech­te­re Bör­sen­platz. Zumin­dest die­se His­to­rie spricht 2022 für den Dax im Ver­gleich zu den US-Börsen.

Quel­le: Handelsblatt,25.1.2022


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